Kurzgeschichten



Blutroter Samt

 Das Erste, was ich von ihm sah, war blutroter Samt, der mir die Sicht nahm, bevor ein Paar kräftige Arme mich auffingen, sonst wäre ich wahrscheinlich alle Stufen zur U-Bahn hinuntergefallen.


Mir hätte klar sein müssen, dass es keine gute Idee war, am Halloweenabend mit der Bahn zu fahren, aber ich hatte kein Auto, war zu geizig für ein Taxi und musste zu Monika.

Meine Chefin hatte mich erst heute gebeten, sie zu einer Veranstaltung bei einem Stammkunden ihrer Antiquitätenhandlung zu begleiten, weil ihr Mann plötzlich krank geworden war und da ich nichts anderes vor hatte, warf ich mich in mein „kleines Schwarzes“ und die Halsbrecher-Pumps und hetzte los.


Kaum war ich unterwegs, wurde ich von zwei schlaksigen Typen mit diesen fiesen „Scream-Masken“ verfolgt, die blöde Sprüche über mein „grauenerregendes Kostüm“ klopften. Das rief bei mir einen regelrechten Fluchtimplus hervor, sodass ich alles aus meinen Absätzen herausholte. Prompt knickte ich auf der ersten Stufe der U-Bahntreppe um und flog.

Kalte Hände stellten mich wieder auf die Füße, dann sagte eine Stimme, so dunkel und weich wie der Samt, der meinen Kopf einhüllte: „Hoppla, Verehrteste. Falls sie keine Gestaltenwandlerin sind, sollten sie auf diesen Schuhen keine weiteren Flugversuche unternehmen.“


Der elegante Mann, der meinen Sturz abgefangen hatte, wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Sein langes, dunkles Haar unterstrich seine blassen, aristokratischen Gesichtszüge. Unter dem Purpurumhang trug er einen edlen, schwarzen Anzug und glänzend polierte Stiefel.

Ich muss zugeben, ich war mehr als angenehm überrascht. Leider entblößte er beim Lächeln ein paar lächerlich lange Eckzähne. Damit war die Freude über den attraktiven Retter dahin, denn ich teilte seine deutlich sichtbare Begeisterung für Halloween und Verkleidungen nicht im Geringsten. Schon als Kind hatte ich den albernen Zirkus gehasst, dem ich alle Jahre wieder an Fasching ausgesetzt war. Warum musste ausgerechnet so ein gut aussehender Mann den Kostümfetisch auf die Spitze treiben?

Von unten drang der Schall knallender Zugtüren herauf. Na toll, jetzt hatte ich auch noch die Bahn verpasst!

„Sie können mich wieder loslassen, Nosferatu“, motzte ich den Fremden frustriert an und er gehorchte prompt.

„Mein Name ist Nathan, nicht Nosferatu“, antwortete er.

„Ist mir egal, wie Sie heißen. Sie haben eiskalte Hände! Warum ziehen Sie sich nichts Vernünftiges an?“

„Sie sind ausgesprochen unhöflich. Immerhin haben diese Hände Sie gerade vor ernsthaftem Schaden bewahrt. Die Kälte steckt mir leider in den Knochen“, meinte er verärgert. Sein blutroter Samtumhang wirbelte schwungvoll herum, als er sich umdrehte und mich einfach stehen ließ.


Auf dem Bahnsteig tauchte er dann unerwartet wieder neben mir auf. Er lächelte. Nein, es war mehr ein boshaftes Grinsen, bei dem er sein Gebiss zur Schau stellte. Ich rollte genervt mit den Augen und blickte zur Seite. Woher er diese Zähne wohl hatte? Sie sahen täuschend echt aus und hatten seine Aussprache kein bisschen behindert.


Endlich kam die nächste Bahn. Prompt wirbelte blutroter Samt am Boden um meine Füße herum. Nosferatu drückte sich dicht an mich heran und ich fröstelte in seiner Nähe, obwohl ich einen warmen Wollmantel trug. Der Kerl hatte eine Ausstrahlung wie ein Gefrierschrank.

„Auch auf die Gefahr hin, aufdringlich zu erscheinen, möchte ich erwähnen, dass ich Ihr Kostüm ausgesprochen originell finde. Sie gehen als Opfer, nicht wahr?“, raunte er in mein Ohr.

Empört drehte ich mich um, aber der Blick in seine abgrundtiefen, schwarzen Augen erstickte meine Retourkutsche im Keim.


Im Abteil zog eine junge Hexe seine Aufmerksamkeit auf sich. Dem schrillen Gelächter nach zu urteilen, schien er sie bestens zu unterhalten. Ab und zu warf er mir einen Blick zu und leckte dabei verstohlen über seine blassroten Lippen. Von wegen Opfer. So ein Idiot!

Kaum machte ich mich zum Aussteigen bereit, sah ich rot, weil sich Nosferatus purpurner Überwurf in der Glastür spiegelte.

„Im Grunde geben wir zwei das perfekte Paar ab. Vampir und Opfer“, hauchte er in meinen Nacken. „Ich werde bei einer Veranstaltung erwartet, mit Begleitung, die mir leider noch fehlt. Würden Sie mir die Ehre erweisen?“

„Nein!“

„Warum nicht?“

„Ich hasse Kostümpartys!“

„Bedauerlich, wo Sie doch absolut passend kostümiert sind.“ Wieder leckte er sich die Lippen. „Aber, man sieht sich immer zweimal, nicht wahr? Ich kann warten.“


Erst als die Türen der U-Bahn hinter mir zuschlugen, drehte ich mich noch einmal um. Er war drinnen, ich draußen. Soweit, so gut! Als die Bahn anfuhr, schüttelte ich den kalten Schauer ab, der mir vom Nacken den Rücken hinunter huschte.


Leider hatten sich in dieser Halloweennacht alle gegen mich verschworen.

„Oh, nein!“, jammerte ich beim Anblick der wild frisierten, rothaarigen Hexe im grellgrünen Fransenkleid, die mich an Monikas Haustür empfing.

„Oh, doch!“, sagte Monika und zog mich in ihre Wohnung. „So kannst du unmöglich mitkommen. Es ist ein Kostümfest!“

„Hast du nicht etwas von Cocktail-Party mit Antiquitätensammlern gesagt?“

„Da musst du mich missverstanden haben. Was machen wir jetzt aus dir?“ Monika raufte sich den gefärbten Schopf. „Ich habe weiße Schminke und ein ausrangiertes Bettlaken. Da stechen wir ein paar Löcher rein! Ketchup! Genau, schön viel Rot! Du wirst eine zauberhafte Leiche abgeben.“

„Stopp! Nein!“, protestierte ich. „Ich behalte mein Kleid an. Her mit der Schminke und einem roten Lippenstift. Ich gehe als Opfer!“


Ich gab mir wirklich Mühe mit der Maskerade, schmierte Gesicht, Hals und Dekolleté mit der weißen Creme ein, malte zwei korallenrote Punkte als Bisswunden auf meinen Hals und zwei dünne Striche, die als Blutrinnsale in mein Dekolleté liefen.

Monika war nicht begeistert, aber wir waren spät dran, also musste sie notgedrungen mit Nosferatus Opfer zum Gespensterball gehen.


Die gigantischen Flügeltüren des eindrucksvollen Herrenhauses aus dem achtzehnten Jahrhundert standen einladend offen, als wir auf den Parkplatz fuhren. Sphärische Musik beschallte das Anwesen, das von schrecklicher Halloweendekoration verschandelt wurde: kleine Totenköpfe mit rubinroten Augen, orangerot leuchtende Fratzenkürbisse und neben dem Eingang ein Skelett mit einem Grabstein auf dem „Willkommen“ stand.

Der Gastgeber, ein pelziger Werwolf, dessen Gesicht mit puterroten Hitzeflecken übersäht war, begrüßte uns mit Champagner. Er lobte Monikas Kostüm, bedachte mich rasch mit einem missbilligenden Blick. Händeringend erklärte er, er warte auf den Ehrengast, einen namhaften Historiker, der später noch einen Vortrag halten sollte und noch nicht eingetroffen war. Dann eilte er einem Zombie und einer Mumie entgegen, die gleich nach uns angekommen waren.

Das Haus mit seinen wertvollen Möbel, Bildern und Kunstgegenständen versöhnten mich mit dem schaurigen Anblick, den die Partygäste boten. Irgendwie taten mir besonders die Leute mit den abscheulichen Gummimasken leid. Die mussten doch ungeheuer schwitzten unter ihrem zweiten Gesicht.

Hier und da sah ich rote Umhänge und zuckte unweigerlich ein paar Mal zusammen, aber die meisten waren aus billigem, dünnen Polyester. Kein Vergleich zu dem edlen, blutroten Samt, den der Fremde aus der U-Bahn getragen hatte. Ich blieb an Monikas Seite und unterhielt mich dabei gut, denn sie kannte alle und jeden. Irgendwann zog es die Partymonster in den ersten Stock. Der erwartete Antiquitätenkenner war endlich eingetroffen und referierte im roten Salon über die Herkunft einer wertvollen Standuhr. Monika wollte sich das unbedingt anhören, aber ich hatte noch Appetit, daher nutzte ich die Gunst der Stunde, um mich dem Buffet zu widmen.


Es war kurz nach vier Uhr, als ich vor der Heimfahrt noch einmal rasch zur Toilette ging. Kaum hatte ich den weinrot gekachelten Waschraum mit den goldenen Wasserhähnen betreten, trieb es mir die Schamesröte ins Gesicht, weil mich die Geräusche, die aus einer verschlossenen Kabine drangen, peinlich berührten. Eine Frau stöhnte wollüstig und ihr Partner rang angestrengt nach Luft. Seltsame Kusslaute, mehr ein Schmatzen oder Schlürfen, bescherten mir eine Gänsehaut. Zum Glück waren die beiden sehr beschäftigt, sodass ich rückwärts auf Zehenspitzen zur Tür schleichen konnte. Ich griff nach der Klinke, da glitt plötzlich blutroter Samt zu Boden.

Nosferatu?“, entfuhr es mir völlig entrüstet.

Die Frauenstimme wisperte noch gebrochen: „Nein, hör nicht auf!“, dann war es totenstill.

Der verräterische Stoff wurde aufgehoben und ein Räuspern kam von der anderen Seite der Tür. Der Sperrriegel wurde langsam gedreht und dann ging die schmale Kabinentür wie in Zeitlupe auf.


Nathans Augen glühten feuerrot und brannten förmlich auf meinem ohnehin geröteten Gesicht. Ich starrte ihn fassungslos an, absolut unfähig zu reagieren.

„Guten Morgen. Welch schöne Überraschung“, sagte er im Plauderton. „Es ist wohl etwas Wahres dran, an dem Spruch: Man sieht sich immer zweimal. Erfreulich. Noch erfreulicher, dass wir beide mehr gemeinsam haben, als Sie denken. Auch ich hasse Kostümpartys.“ Er trat ans Waschbecken und wusch sich etwas Blut vom Kinn, dann sah er mich im Spiegel an. Seine Fangzähne schoben sich schneeweiß über seinen kirschroten Lippen hinaus. „Aber heute ist für mich die Nacht der Nächte. Die Nacht des Lächelns, sozusagen!“

Mein Blick fiel auf die bleiche Frau, die reglos auf dem Toilettendeckel saß, am Hals ein blauroter Knutschfleck, in dessen Mitte zwei dunkelrote Punkte glänzten. Meine Kehle war zu trocken und zu eng um die kleinste Silbe hervor zu bringen. Immerhin gelang es mir, auf das leblose Opfer zu deuten und eine Art Quietschen von mir zu geben.

„Aber, aber. Wofür halten Sie mich?“, fragte der Vampir tadelnd, wobei ein Schmunzeln seinen Rosenmund umspielte. „Ein starker Kaffee und die Dame ist so gut wie neu! Vielleicht bringen Sie ihr einen, wenn ich gegangen bin?“

Ich nickte wie in Trance.

An der Waschraumtür hielt er noch einmal inne. „Ich würde Sie ja gerne noch auf einen Drink mit zu mir nehmen, aber…“, er warf einen Blick auf die Uhr. „Es ist leider schon reichlich früh. Und, da gibt es so einen Spruch, der mir nicht aus dem Kopf will. Beim dritten Mal müssen Sie einen ausgeben, wenn ich mich nicht irre. Ach, diese Vorfreude“, seufzte er und blies mir galant einen Luftkuss zu.

Das Letzte, was ich von ihm sah, war blutroter Samt, der geschmeidig durch die zufallende Tür wehte.